Hammerflügel: Erard Fréres, Paris 1819, Cobbe Collection, Hatchlands, Surrey
Französische Flügel sehen schon im frühen 19. Jahrhundert sehr „modern“ aus. Dies liegt vor allem am Erscheinungsbild der Klaviaturseite des Instruments mit den tief abgesenkten Klaviaturwangen. Auch ihr Klang ist infolge der Mechanik, die sich ab ca. 1840 der heute üblichen immer mehr annähert, den modernen Konzertflügeln oft ähnlicher als den zeitgenössischen Instrumenten aus England oder dem deutschen Sprachraum.
Échantillon musical:
Ausschnitt aus Ignaz Moscheles, Sonate mélancolique op. 49 (1814)
gespielt von Michael Krücker
Instrument: Erard, 1844
Der französische Pianofortebau begann ähnlich wie in England maßgeblich durch deutschsprachige Immigranten wie die Familien Erard (aus dem Elsaß, dt. Erhard) und Pleyel (aus Niederösterreich). Doch die Situation der Klavierbauer in Paris stand lange unter sehr widrigen Vorzeichen, denn während der französischen Revolution galten ihre Kunden aus der gesellschaftlichen Oberschicht als politisch verdächtig und sie selbst als potentielle Kollaborateure und Revolutionsgegner. Viele der Immigranten, die sich aus wirtschaftlichen oder politischen Motiven dort niedergelassen hatten, versuchten das revolutionäre Frankreich möglichst zu verlassen, wie die Brüder Erárd, die nach London flohen und dort bei Broadwood und anderen arbeiteten.
Nach ihrer Rückkehr nach Frankreich ähnelten ihre Tafelklaviere und Hammerflügel englischen Instrumenten. Doch nach 1820 entstanden vor allem im Betrieb von Sébastien Erard Zug um Zug die wesentlichen Elemente, die den modernen Konzertflügel bestimmen: die Mechanik mit „doppelter Auslösung“ (double échappement), die Verwendung von Metallspreizen zum Auffangen des Saitenzuges (barrage métallique; auch schon in London um 1820), die Einführung des Filzbezuges des Hämmer (entwickelt von Jean-Henri alias Johann Heinrich Pape, einem Mitarbeiter bei Erard), später ab 1850 der Ganzmetallrahmen (nach Jonas Chickering 1830 bzw. seinem Gußrahmen von 1843) und die versuchsweise Schrägführung der tiefsten Saiten. Der Pariser Klavierbau war, was die Optimierung der einzelnen Komponenten betraf, der fortschrittlichste dieser Zeit.
Animation der Mechanik eines Erard-Flügel
Faktisch wurde dabei das Pianoforte ein weiteres Mal neuerfunden, denn Spieleigenschaften und Klangeindruck dieser französischen Flügel jener Epoche unterscheiden sich wesentlich von den älteren Modellen; doch die Erfordernisse des Musizierens in den immer größeren werdenden Konzertsälen (sowohl Erard als auch sein Hauptkonkurrent Pleyel unterhielten die größten Konzertsäle in Paris!) erforderten eine Lautstärke von den Instrumenten, die anders als durch Vervielfachung des Saitenzuges und schwere, stark beschleunigte Hämmer nicht zu erreichen war. Dabei wurde der Verlust vieler traditioneller Qualitäten in Kauf genommen, wie z.B. geringer Tiefgang und leichter Anschlag der Tasten, Vielfalt der Klangnuancen zwischen Diskant und Bass usw.
Viele dieser Neuerungen setzten sich schließlich international durch, doch maßgeblich hierfür waren weder die „alten“ Konkurrenten noch die Pariser Firmen, sondern deren Nachahmer in den USA und Deutschland, die nach 1870 den Weltmarkt immer mehr unter sich aufteilten.
So wurden gegen Ende des 19. Jahrhunderts die „Revolutionäre“ Erard und Pleyel unversehens zu „Traditionalisten“, indem sie erst sehr spät zur industriellen Fertigung übergingen, lange Zeit noch an der parallelen Bespannung der tiefen Saiten festhielten und in vielen anderen Details scheinbar den „Zeitgeist“ ignorierten. Doch so man heute das seltene Glück haben sollte, einen guterhaltenen Konzertflügel dieser Hersteller aus der Zeit vor 1900 noch zu hören, kann man die besten Eigenschaften dieser französischen Instrumente immer noch mit Staunen bewundern; klangliche Homogenität und eine „Größe“ und „Wärme“ des Tones, wie sie danach nicht mehr erreicht wurde und doch so unverzichtbar ist für die Interpretation etwa der Klavierwerke eines Claude Debussy.
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