Johann Baptist Streicher, 1838, Sammlung Rudolf Haase/Schweiz
Der typische Wiener Flügel der Romantik ist ein häufig mit erlesenen Edelhölzern aufwendig furniertes Instrument. Eine weitere Spezialität dieser Instrumente war eine dünn gehobelte Holzplatte, die an den Rändern auf kleinen Holzblöcken über den Saiten lag; Zeitweise als "Staubdeckel“ bezeichnet, wirkte diese Platte als eine Art zweiter Resonanzboden. Andererseits gab es seltener auch Staubdeckel aus einer ausgespannten Leinwand in einem stützenden Holzrahmen, die auf das Klangspektrum des Instruments eher ausgleichend wirkten. Bei vielen Instrumenten wurden diese Staubdeckel in späteren Zeiten entfernt.
Échantillon musical:
Ausschnitt aus Johannes Brahms, Walzer op. 39
gespielt von Rolf Junghanns & Fritz Neumeyer
Instrument: Johann Baptist Streicher, 1864 (Bad Krozingen)
Maria Anna (allgemein genannt Nanette) Stein (1769-1833), die Tochter von Johann Andreas Stein, war Schülerin ihres Vaters, aber auch eine renommierte Pianistin. Mozart, der sie bei seinem Augsburg-Besuch 1777 kennenlernte, berichtete amüsiert über ihr noch kindliches Spiel, aber auch über den Stolz des Vaters auf seine talentierte Tochter. 1794 heiratete Nanette Stein den Pianisten Johann Andreas Streicher, einen engen Freund Schillers, und übersiedelte mit ihm nach Wien. Die Klavierbauwerkstätte betrieb sie dort zusammen mit ihrem jüngeren Bruder Matthäus Andreas Stein; später übernahm auch ihr Ehemann immer mehr Aufgaben, während Matthäus Andreas Stein 1802 eine eigene Werkstätte eröffnete. Unter ihrem Sohn Johann Baptist (ab 1833; 1796-1871) und dessen Sohn Emil (1836-1916) bestand der Betrieb bis 1896.
Die Klaviere der Wiener Stein- bzw. Streicher-Werkstätte wurden wegen der Klarheit und Schönheit des Klangs gepriesen, besaßen jedoch im Vergleich zu einigen Instrumenten der Wiener Konkurrenz wie Walter oder später Graf ein etwas geringeres Volumen und galten daher als besser für intimeres Musizieren in Salons und Wohnräumen als für öffentliche Konzerte in einem großen Konzertsaal geeignet.
Animation der Mechanik eines Streicher-Flügels
Der erfinderische Geist Johann Andreas Steins lebte offenbar in seinen Nachkommen weiter fort: Unter dem Eindruck der ersten englischen Klaviere, die nach Wien gelangten, entstand etwa eine besondere Klaviermechanik mit technischen Elementen beider Traditionen (mit einem Treiber auf der Taste nach englischem Vorbild, aber einer Hammerkonstruktion sowie der Montage der gesamten Mechanik auf einem gemeinsamen, wie eine Schublade in das Instrument geschobenen Rahmen nach süddeutschem Muster).
Eine weitere Spezialität waren „oberschlägige“ Mechaniken, bei denen die Hämmer nicht wie üblich von unten, sondern von oben auf die Saiten schlugen. Oberschlägige Instrumente sollten eine stabilere Stimmhaltung aufweisen, da die Hämmer nicht wie sonst beim Anschlag die Saiten geringfügig von Steg und Stimmstock abhoben, was auf längere Zeit hin zum Verstimmen der Saiten führte. Ausserdem entfiel die Lücke zwischen Stimmstock und Resonanzboden, durch die hindurch der übliche Hammeranschlag von unten erfolgte. Damit konnte der Resonanzboden vergrößert werden, was Klangvorteile erbrachte, und die Gesamtkonstruktion war stabiler.
Doch diese Vorzüge wurden mit zwei gravierenden Nachteilen erkauft: Die Mechanik befand sich bei solchen Instrumenten direkt über den Wirbeln der Saiten und mußte daher zum Stimmen des Instruments abgehoben werden; ausserdem fielen die Hämmer nach dem Anschlag nicht in ihre Ausgangsposition (wie sonst „nach unten“) zurück, sondern mußten durch Zugfedern und Gegengewichte nach dem Anschlag zurückgeholt werden, was die Spielart dieser oberschlägigen Instrumente schwergängiger machte.
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