Jeder Ton einer Orgelpfeife ist strenggenommen ein Klang aus einer ganzen Reihe von Tönen. Diese sind jedoch nicht beliebig, sondern stehen in festen Verhältnissen zueinander. Der Grundton der jeweiligen Pfeife/Zunge erzeugt eine Folge von Obertönen, deren Zahl und jeweilige Stärke von der Pfeifenmensur abhängt. Die Intervallverhältnisse dieser Töne sind konstant und bereits seit der Antike (Pythagoras) bekannt. Die Frequenzen der einzelnen Töne in der Naturtonreihe verhalten sich zueinander wie deren Ordnungszahlen. Die Schwingungszahl des Grundtons (Naturton 1) vervielfacht sich entsprechend für die höheren Naturtöne (Obertöne; Naturton 2 ff.) um das Doppelte, Dreifache usw. usw. Eine Besonderheit gedackter Labiale und der Zungenpfeifen mit zylindrischen Aufsätzen ist dabei das Ausfallen der geradzahligen Naturtöne im Klangspektrum: ihr Klang setzt sich nur aus den Naturtönen 1 (Grundton), 3-5-7 ... usw. zusammen, während die anderen Pfeifen eine lückenlose Naturtonreihe erzeugen.
Jeder Naturton benötigt ein höheres Energieniveau als der vorhergehende, um erklingen zu können. Dies ist eine der Ursachen für die relative Obertonarmut von Flötenpfeifen, in denen „nur“ Luft schwingt, während die schwingenden Metallzungen der Zungenpfeifen erheblich mehr Energie benötigen, um überhaupt in Schwingung zu geraten, aber auch erheblich mehr Energie wieder abgeben und somit an Zahl, Höhe und Intensität erheblich mehr Obertöne erzeugen. So wirkt eine Labialpfeife bereits mit mehr als vier nachweisbaren Obertönen im Klangspektrum durchaus obertonreich; eine obertonreiche Zungenpfeife erzeugt dagegen ein Dutzend oder mehr Obertöne.
Die relative Stärke der Obertöne im Vergleich zum Grundton ist ebenfalls ein wichtiger Faktor. In aller Regel ist der Grundton der stärkste Ton im Spektrum einer Pfeife, doch kann durch Verengen der Mensur der Grundton relativ abgeschwächt werden; extrem enge Mensur kann dazu führen, dass der Grundton ganz ausfällt und die Pfeife in den nächsthöheren Naturton überbläst. Bei der Mensurierung des gedackten Registers Quintatön wird dagegen darauf geachtet, dass die Naturtöne 1 und 3 (annähernd) gleich stark erklingen. Die Mensur der Pfeifen und die Gestalt der Aufsätze von Zungenpfeifen können durchaus das Stärkeverhältnis der Naturtöne untereinander beeinflussen.
Doch noch eine weiterer Klangfaktor wird so beeinflusst: die
Bildung der sogenannten „Formanten.“ Es handelt sich dabei um ein Phänomen, das
jedem vertraut ist, nämlich die Ausbildung von Vokalen, denn der menschliche
Stimmapparat stellt letztlich eine ähnliche Kombination dar von Grundtonerzeuger
(die Stimmbänder im Kehlkopf) und einem Aufsatz (vor allem die Mundhöhle mit
der Zunge), der so geformt werden kann, daß einzelne Frequenzbereiche bevorzugt
und andere gedämpft werden können.
Für den Vokal „u“ werden etwa alle Obertöne oberhalb etwa 500 Hz stark abgedämpft; „a“ entsteht durch relative Verstärkung der Frequenzen vor allem um 1000 Hz, „i“ durch Dämpfung tiefer Frequenzen und Verstärkung des Bereiches oberhalb etwa 2000 Hz. Schließlich besitzt „ä/e“ – zwischen „a“ und „i“ - ein breites Band mittlerer und höherer Frequenzen, das im Stimmapparat in Hohlräumen im Bereich der Nase und der Stirn entsteht, weshalb dieser Klangbereich oft als „näselnd“ charakterisiert wird.
In der Orgel entstehen nun Formanten auf ganz ähnliche Weise, sowohl durch Dämpfung gewisser Frequenzbereiche (etwa bei einzelnen Zungenpfeifen) als auch durch deren Verstärkung (etwa wenn sich die Klänge der Prinzipalregister verschiedener Lagen im „Plenum“ aufaddieren). Die Folge dieser Phänomene kann man etwa bei solistischen Zungenregistern (wie die „Vox humana“) verfolgen, die gleichsam wortlos zu singen scheinen, indem die Formanten quer durch den Tonumfang des Registers von „u“ zu „å“ zu „a“ zu „ü“ bis zu „i“ changieren. Ein gutes Orgelplenum entwickelt einen deutlichen „a“-Formant, der in der Höhe – ohne allzu viel näselndes „e“ dazwischen – in das von den Mixturen unterstützte „i“ übergeht. Flötenstimmen und Gedackte sollen ihren „u“-Formanten möglichst bis in die hohen Tonbereiche beibehalten, im Klang der Rohrflöte ist dagegen neben dem „u“ auch einen vernehmbarer „i“-Anteil erwünscht.
Kein anderes Musikinstrument ist in dieser Weise in der
Lage, ein Formantenspektrum zu entwickeln, das dem der menschlichen Stimme so
weitgehend entspricht. Auch dies trägt zur Faszination, die von der Orgel
ausgeht, maßgeblich bei.
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