Äußeres Kennzeichen norddeutscher Orgeln war der „Hamburger Prospekt“, eine Prospektgestaltung, die in den Werkstätten der bedeutenden Orgelbaufamilien Huß, Scherer und Fritzsche in Hamburg und Umgebung im 17. Jahrhundert ausgeprägt wurde: Dabei wurde das Orgelgehäuse in sichtbar voneinander getrennte Teilwerke zerlegt; die äußere Begrenzung bildeten die Türme des Pedals, die das Hauptwerk (dazu ein eventuelles Brust- oder Oberwerk) flankierten. Größere Orgeln bekamen ein Rückpositiv, das äußerlich wie technisch ein getreulich verkleinertes Abbild des Hauptwerks darstellte. Brust- oder Oberwerk - innerhalb des Hauptwerksgehäuses - waren in der Regel gestalterisch abgesetzt und somit ebenfalls von außen als eigene Teilwerke zu erkennen. Diese Prospektform breitete sich im Verlauf des 17. und 18. Jahrhunderts über weite Landstriche entlang der Nord- und Ostseeküste aus und bildet das äußere Kennzeichen der flächenmäßig vielleicht größten Orgellandschaft Europas. Da einige Werkstätten wie diejenige Arp Schnitgers auch in nennenswertem Umfang Orgeln in entferntere Länder exportierten, kommen einzelne Orgeln mit Hamburger Prospekt sogar in Portugal und Brasilien vor.
Die Fassaden der Orgelwerke weisen häufig eine klare Gliederung in (meist) fünf Pfeifenfelder auf: Die Mitte bildet ein hoch herausragender Rundturm mit den tiefsten Pfeifen des Hauptwerks, die Ecken sind mit Spitztürmen hervorgehoben. Dazwischen befinden sich zwei Flachpfeifenfelder in (häufig) zwei Stockwerken; die Pfeifen der oberen Felder sind dabei oft stumm, da ihre Windversorgung meist zu kompliziert wäre.
Die norddeutsche Orgel des 17. und 18. Jahrhunderts ist ein beeindruckendes Zeugnis architektonischer, aber auch klanglicher Planung. Ihre Konzeption zielte auf eine klangliche Ausgewogenheit der einzelnen Teilwerke, die einander zwar klanglich kontrastieren sollten, aber zueinander in Lautstärke und Klangpräsenz harmonieren. Dies sollte von Anbeginn an die ideale Grundlage für das Spiel im Trio von zwei Manualen und Pedal bilden, das im Verlauf der Orgelgeschichte eine besondere Bedeutung bekam. Nach dem Vorbild des „Organistenmachers“ Jan Pieterszoon Sweelinck prägten dessen Schüler und Enkelschüler einen musikalischen Stil aus, der über die Werke eines Vincent Lübeck oder Dietrich Buxtehude für Generationen zum Vorbild für die protestantische Orgelmusik wurde. Gattungen wie Choralvorspiel, Choralfantasie, aber auch das traditionelle Satzpaar von Präludium und Fuge entstanden in diesem Umfeld und wurden zur Richtschnur, an deren Erfordernissen das Orgelspiel ebenso wie der Orgelbau gemessen wurde. Anders als etwa in Mitteldeutschland ist daher die norddeutsche Orgel überwiegend als Soloinstrument konzipiert.
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