Die niederländische Kirchenorgel wurde
schon seit dem 16. Jahrhundert von einem bemerkenswerten Hang zur
Gigantomanie gekennzeichnet, bis weit ins 18. Jahrhundert standen die
größten Orgeln Europas in den Niederlanden. Dies wirkte auf
außenstehende Betrachter oft umso erstaunlicher, als die Orgel im
Gottesdienst der reformierten Kirche kaum eine Rolle spielte. Die
Auflösung dieses scheinbaren Paradoxons lag in dem Umstand, dass die
Kirchenorgeln traditionell von Bruderschaften oder Stadtgemeinden in
Auftrag gegeben und finanziert worden waren. Selbst als während
Reformation und Bildersturm die Ausstattungen der Kirchenräume entfernt
wurden, verhinderte der Umstand, dass die Orgeln strenggenommen nicht
der Kirche gehörten, ihre Zerstörung. Im Gegenteil begann im Verlauf des
17. Jahrhunderts geradezu ein Wettstreit zwischen den wirtschaftlich
prosperierenden Städten der Niederlande, das größte und repräsentativste
Orgelwerk in ihren Mauern zu beherbergen, die renommiertesten
Organisten zu beschäftigen und den größten Zulauf zu ihren Konzerten zu
verzeichnen. Der Ruhm von Jan Pieterszoon Sweelinck und seinen
zahlreichen Schülern reichte weit über die Niederlande hinaus.
Ein
weiterer Wesenszug niederländischer Orgeln ist ihr Wachstum über
mehrere Generationen. Radikale Erneuerungen bildeten die Ausnahme, eine
Abfolge von Erweiterungsbaumaßnahmen über mehrere Jahrhunderte dagegen die
Regel. So wurden in vielen Orgeln des 17. und 18. Jahrhunderts große
Teile ihrer Vorgängerinstrumente des 16. Jahrhunderts übernommen. Die
oft monumentalen Orgelgehäuse boten nicht selten genügend Raum für
mehrere Phasen der Expansion, denn bereits im 16. Jahrhundert bestand
der Ehrgeiz, Orgeln mit 16’-Prinzipalen im Hauptwerk und (möglichst)
32’-Prinzipal im Pedal zu errichten – viel größer ging es ohnehin nicht.
Der
Registerreichtum dieser Instrumente war ebenso sprichwörtlich wie ihre
äußere Größe. Die niederländischen Orgeln boten im 17. Jahrhundert ein
einzigartiges Experimentierfeld für neue Klänge im Orgelbau, und von
dort gelangten Ideen und Bauweisen in viele europäische Länder.
Niederländische Klein- und Hausorgeln
Kleinorgeln konnten einer Vielzahl von Zwecken dienen, etwa als
Generalbassinstrumente oder als (tragbare) Prozessionsorgeln. In einigen
Regionen Europas bildeten sich jedoch eigenständige Kleinorgeltypen zum
Gebrauch in Privathäusern heraus. Schwerpunkte bildeten dabei die
Niederlande und die Innerschweiz, beides Regionen mit einem hohen
Bevölkerungsanteil reformierten Bekenntnisses. Dort spielte die Orgel in
der kirchlichen Liturgie nur eine geringe, manchmal überhaupt keine
Rolle, getreu der ablehnenden Haltung der Reformatoren Zwingli und
Calvin gegenüber „des Teufels Sackpfeife“. In wohlhabenden Bürger- und
Bauernhäusern galt eine Hausorgel dagegen durchaus als attraktives
Statussymbol und wurde als Begleitinstrument zu häuslicher Andacht, aber
auch als Tasteninstrument per se und als Generalbassinstrument für
Ensemblemusik geschätzt.
Kennzeichen solcher Hausorgeln waren einerseits die etwas zurückhaltende klangliche Disposition mit reduzierter Klangkrone hoher Pfeifenreihen, dafür mehrfacher 8’-Besetzung, um für Begleitzwecke auch dynamisch gewisse Wahlmöglichkeiten zu bieten; andererseits häufig geteilte Schleifen für Diskant und Bass, um die Klangbereiche der beiden Hände unterschiedlich registrieren zu können.
Diese Instrumente besitzen in der Regel ein Manual und zwischen drei und
sechs, seltener bis zu zehn Register, deren Zusammenstellung erkennen
lässt, dass es sich hierbei um Orgeltypen mit jeweils eigenen
charakteristischen Merkmalen handelt. In der Regel besitzen solche Instrumente eine Höhe und Breite von etwa zwei und eine Tiefe von
etwa anderthalb Metern zum Gebrauch in Wohnstuben, aber auch in Schulen.
Sie dienten offenbar als Begleit- und Soloinstrument zu weltlicher
Musik ebenso wie zu häuslichen Andachten.
Niederländische
Hausorgeln zeigen in Gehäuseform, Zahl der Register und Manuale durchaus
eine gewisse Vielfalt. Manche der größeren Instrumente konnten sogar
zwei Manuale und mehr als zehn Register enthalten – Instrumente dieser
Größenordnung verlangten nach Gehäusen entsprechender Dimensionen und
unterschieden sich nicht mehr wesentlich von kleineren Kirchenorgeln. Die
Gehäuseformen kleinerer Instrumente orientierten sich an den modischen
großbürgerlichen Möbeln jener Epoche, dem Kabinettschrank, dem
Schreibtisch und dem Sekretär. Ihr Reiz bestand darin, in einem
äußerlich kaum oder gar nicht als Orgel erkennbaren Möbelstück
entsprechender Größe alle Bestandteile einer Orgel in einem sehr
begrenzten Volumen unterzubringen. In einem kleinen Sekretär fanden nur
etwa zwei bis vier Register Platz, während ein größerer Schreibtisch mit
Aufsatz oder ein relativ voluminöser Kabinettschrank durchaus
ermöglichten, etwa sechs bis zehn Register einzubauen. Die üblichen
Möbelelemente, wie Schubladen etc. waren zwar äußerlich angedeutet, aber
in der Regel nur Attrappen. Vorhandene Prospektpfeifen waren meist
stumm, denn für lange Kondukten war in den Möbeln kein Platz.
Diese niederländischen Instrumente waren offenbar zu ihrer Zeit recht beliebt; in ganz Nordeuropa wurden diese Instrumente gelegentlich nachgeahmt, wie ein Beispiel aus der weit entfernten Provinz Livland (heute Grenzregion Estland/Lettland) bezeugt. Die auch als Möbel eher schlichte Imitation, die wohl ohne Vergleich mit einer unmittelbaren Vorlage entstand, zeigt im Vergleich dazu das hohe Niveau der niederländischen Arbeiten.
© Greifenberger Institut für Musikinstrumentenkunde | info@gimk.org